VAT­I­CAN MAG­A­ZIN, Mai 2013

Wo die Natur die Majestät ihres Schöpfers spiegelt

WÜSTE. Schon immer hatte dieses Wort einen beson­deren Klang für mich, einen Klang, der Res­o­nanz aus­löste, der Sehn­sucht weckte. Sehn­sucht nach dem Echten, dem Unbekan­nten, dem Radikalen, dem Großen; Sehn­sucht nach der Her­aus­forderung: her­aus aus dem Neben­säch­lichen, dem Ober­fläch­lichen, dem Beschei­d­wis­sen – mit einem Wort, Sehn­sucht nach Gott.

Diese Sehn­sucht schlum­merte im Halbbe­wussten, bis meine Kinder den Ruck­sack pack­ten, um mit der Gemein­schaft Emmanuel auf den Sinai zu fahren und dort vierzehn Tage lang von ihrem „Mose“ durch die Wüste geführt zu wer­den und eine klitzek­leine Ahnung davon zu bekom­men, wie es wohl gewe­sen sein muss, als auser­wähltes Volk vierzig Jahre lang in dieser Gegend unter­wegs zu sein, in der das Überleben auf Wun­der angewiesen war. Ich wollte mit, aber lei­der: ich war zu alt, nur für U 30! Als ich meine Kinder zwei Wochen später vom Flughafen abholte und die erste Pil­gerin durch die Schiebetür kam, raunte sie mir zu: „Etwas Großes ist geschehen.“ Mein noch unge­taufter Sohn wollte getauft wer­den. Ja, wirk­lich, etwas Großes war geschehen.

Ein paar Jahre später wur­den die Wüstenex­erz­i­tien auch für Ü 30 ange­boten, sogar für Ü 60. Man wurde intro­spiziert, ob die Moti­va­tion stimmte, die kör­per­liche Leis­tungs­fähigkeit. Fünf Stun­den laufen am Tag? Kein Prob­lem, sagte ich und dachte ich. Ende Feb­ruar flo­gen wir los, nicht nach Kairo, son­dern nach Amman in Jor­danien, aus Sicher­heits­grün­den, 32 Teil­nehmer, ges­tandene Leute, zwei Priester, ein „Mose“, eine „Zipo­rah“, ein „Josua“ und zwei gewei­hte Schwest­ern. Mose ging voraus, vor ihm der Beduinen­führer, zart­gliedrig und leicht­füßig wie eine Gazelle, Josua hin­ter­her, damit keiner ver­loren ging.

 

Es war noch stock­fin­ster, als wir am Ein­gangstor zum Wadi Rum im Süden Jor­daniens, aus dem Bus ausstiegen und unseren Tages­ruck­sack packen soll­ten. Das muss man erst mal ler­nen, wis­sen, wo was ist in welcher Tasche des Ruck­sacks, und was man braucht untertags, wenn der große Ruck­sack von „japanis­chen Kame­len“ trans­portiert wird, den Toyota-Jeeps der Beduinen. Wo wir uns befan­den und wie viel Uhr es war, wussten wir nicht. Handys und Uhren waren zu Hause geblieben.

Es geht los. Sand unter den Stiefeln. Kalte, klare Luft, schwarze Bergsil­hou­et­ten gegen den nacht­dun­klen Him­mel, an dem die Sterne zu verblassen begin­nen. Wilde Hunde bellen in die Stille hinein. Ein­fach meinem Vor­der­mann nach­laufen, ohne zu wis­sen wohin, ohne zu wis­sen, wie lange, ohne zu wis­sen, wie und wann und wo wir essen und schlafen wür­den. Die Notwendigkeit und Möglichkeit, irgen­det­was selbst zu entschei­den, schrumpfte gegen null. Man nennt das Gehor­sam oder besser noch: Vertrauen.

Der Mor­gen lichtet sich. Es wird schnell hell hin­ter den Bergen. Sie leuchten rosa auf und wer­fen messer­scharfe schwarze Schat­ten. Was für gewaltige Gebilde tür­men sich vom flachen Sand­bo­den in die azur­blaue Höhe, immer neue bizarre For­men, jeder Berg eine Per­sön­lichkeit, Majestäten und Irrwis­che, erhabene und wüste Gestal­ten, und doch alles überwälti­gend schön.

Die Beduinen haben uns Früh­stück bere­itet: Bohnenein­topf, Gurken, Tomaten, zuck­er­süßes Halwa, Fladen­brot und Wasser. Jeder packt die Tages­ra­tion fürs Mit­tagessen in seinen Ruck­sack und drei Liter Wasser. Es zeigt sich, dass wir sie nötig brauchen. Wir laufen weiter, noch im Haufen, plap­pernd, später meist im Gänse­marsch, schweigend. Oben auf einem Plateau, das wir keuchend über eine Sand­düne erre­ichen, der erste Lobpreis. Jeder Tag wird mit Lobpreis begrüßt, einem Glo­ria in glo­rioser Land­schaft. Erde, Him­mel, dazwis­chen mächtige Berge und sehr kleine Menschen.

Wüste heißt, alles Überflüs­sige weglassen. Was das Gepäck angeht, so wird mir die Reduzierung des Gewichts zu einem ele­mentaren Bedürf­nis. Im Sand zu laufen, ist weit anstren­gen­der, als ich dachte, eine Wohltat, wenn einem fes­ter Boden unter die Füße kommt. Aber auch in vie­len Herzen lagert Überflüs­siges, Sor­gen, schwierige Beziehun­gen, unge­heilte, unvergebene Ver­let­zun­gen, Zukun­ft­säng­ste. Jetzt geht es darum, in die Gegen­wart einzu­tauchen, Abstand zu gewin­nen und zuzu­lassen, dass das klare, scharfe Licht der Wüste nach und nach Wege beleuchtet, die bisher nicht erkennbar waren.

Wir feiern die erste Heilige Messe. Die Män­ner schlep­pen Steine heran für den Altar, die Frauen binden aus dür­ren Ästen ein Kreuz und schmücken es mit grü­nen Blät­tern, Gin­ster und kleinen rosa Blüten, mit denen sich die Wüste im Früh­ling in sel­te­nen Jahren schmückt. In einem schw­eren Ruck­sack wird „die Sakris­tei“ mit­ge­tra­gen, Kelch und Patene, Wein und Wasser, das Mess­buch, die Altartücher und die Priestergewän­der. Das große Geschehen des heili­gen Mes­sopfers, die heili­gen Worte, die der Priester spricht, dehnen sich aus in die Stille und fallen ins Herz, die Natur spiegelt die Majestät ihres Schöpfers. Mit flat­tern­den Gewän­dern ste­hen die Priester vor und nach der Messe mit dem Rücken zum Volk und dem Gesicht zu Gott und treten für uns ein.

Wenn Mose etwas zu sagen hat, ruft er uns beim Namen: „Sankt Anto­nius“, nach dem Vater des Mönch­s­tums im drit­ten Jahrhun­dert. Er weist Män­nern und Frauen die Rich­tung für die Not­durft, teilt „gefühlte“ Zeit zu für die Pausen. Mit­tags gibt es eine lange Pause, jeder ist allein mit sich und muss sich entschei­den, ob er sich weiter der stechen­den Sonne aus­set­zen oder im Schat­ten frieren will. Die Wüste ist entweder kalt oder heiß und kat­a­pul­tiert uns aus der Lauheit her­aus, die Gott so ver­ab­scheut (Off 3,15 – 16). Ich habe kaum Hunger vor Anstren­gung. Nur raus aus den Stiefeln und hin­le­gen – aber in Rufweite, um das „Jalla Jalla“ des Mose nicht zu überhören, was auf Ara­bisch so viel heißt wie „Auf geht’s!“.

Weiter stapfen im Schweigen. Eine weite Ebene vor uns, ein­fach nur gehen, Schritt für Schritt, Stunde um Stunde, die Stiefel meines Vor­der­manns vor Augen. Es ist nicht sehr heiß, aber man will sich der Sonne nicht aus­set­zen, sie hat etwas Gefährliches hier in der Wüste, Kopf, Augen, Kör­per, alles ist ver­hüllt. Was zu Hause so schwer ist beim Beten, die Gedanken zu beruhi­gen, fällt leicht; es scheint ein­fach nicht genü­gend Energie im Kopf zu sein. Das Herzens­ge­bet fügt sich allmäh­lich dem Rhyth­mus des Gehens und das Gehen dem Gebet.

Wir wer­den in kleine Wegge­mein­schaften eingeteilt, wo wir täglich Gele­gen­heit zum Aus­tausch haben. Es passiert so viel hier in diesem seel­is­chen Dampf­druck­topf. Alte Verkrus­tun­gen brechen auf, Beziehungs– und Beru­fungs­fra­gen fordern Antwort, Dankbarkeit bricht sich Bahn, wo vorher Gle­ichgültigkeit war; Trä­nen fließen, wo Jahrzehnte lang Trock­en­heit war. Wie vielfältig, wie einzi­gar­tig wirkt Gott in jeder Seele! Einer schlägt für den anderen die Bibel auf, und wir müssen immer wieder staunen, wie Gott den Zufall regiert und dem Einzel­nen ins Herz spricht. Kör­per­liche Beschw­er­den kom­men so schnell wie sie gehen. Jemand bekommt mit­ten­drin Schüt­tel­frost und Fieber. Am Tag darauf ist wieder alles in Ord­nung. Ich kann irgend­wann nicht mehr dur­chat­men, keuche schon beim Weg vom Schlaf­sack zum Früh­stück­splatz. Wie soll das weiter gehen? Eine Ärztin gibt mir ein Asth­maspray – nicht dass ich je ein Prob­lem damit gehabt hätte –, wir feiern Heilige Messe und der Spuk ist vorbei.

Als wir gegen Abend ins Lager kom­men, ist die Sonne schon hin­ter der turmho­hen Fel­snis­che ver­schwun­den, an deren Fuß wir Schutz suchen für die Nacht. Die Frauen hier, die Män­ner dort. Jeder sucht sich einen Fleck für Iso­matte und Schlaf­sack, holt sich den schw­eren Ruck­sack und macht Abend­toi­lette mit Feucht­tüch­ern. Vierzehn Tage lang nicht duschen, die Haare nicht waschen, aber man kann sie ja unter dem Beduinen­tuch ver­ber­gen; die trock­ene Wüsten­luft scheint Gerüche nicht zu transportieren.

Die Beduinen haben einen niedri­gen Wind­fang aufgestellt, darin Mat­ten aus­ge­bre­itet und ein Feuer gemacht. Dort steht eine dick­bauchige Alukanne mit schwarzem, süßen Beduinen­tee, daneben ein Kessel mit heißem Wasser. In einiger Ent­fer­nung füllen wir unseren mit­ge­brachten Teller mit frischen Salaten, Humus aus Kichererb­sen, Reis, manch­mal einem Stückchen Huhn. Jeder kann essen, so viel er will.

Die Nacht bricht ein. Wir sitzen ums Feuer, trinken Tee und jeder erzählt ein wenig von sich, woher er kommt, warum er hier ist. Mit der Stirn­lampe auf dem Kopf suchen wir unseren Schlaf­platz, werkeln herum in unseren siebzig Sachen, bis wir endlich im Schlaf­sack liegen, die absolute Stille hören und in den ster­nenüber­säten Him­mel schauen. Niemals habe ich so viele Sterne am Him­mel gese­hen. Wie schön, wie schön hat Gott die Welt geschaf­fen, so groß und doch so tröstlich!

Kein Tag ist gle­ich dem anderen. Das geistliche Pro­gramm der Kat­e­ch­esen, der Predigten, des Abend­pro­gramms mit Zeug­nis­sen und Anbe­tung und Spaß ist fein „getuned“ auf den seel­is­chen Prozess. Wir wer­den immer lustiger, immer ver­trauter, finden ständig etwas zum Lachen. So muss das wohl gemeint sein mit dem Volk Gottes, wenn alle auf Chris­tus schauen, bereit, sich selbst zu verän­dern, offen für den anderen und sol­i­darisch in der Not.

Es kommt der Tag, an dem wir beim Laufen abwech­selnd das Aller­heilig­ste tra­gen dür­fen. Die kon­sekri­erte Hostie liegt in einem Met­all­be­häl­ter und dieser steckt in einem Leder­beu­tel. Nach der Mit­tagspause wird mir das Gefäß feier­lich überre­icht. Ich bin in fröh­licher Stim­mung, hänge mir den Leder­beu­tel um den Hals, gehe ein paar Schritt und die Trä­nen stürzen mir in die Augen, ohne Trau­rigkeit, ohne Inhalt. Die Inten­sität ist so groß, dass ich die Pyxis, so heißt das Gefäß, mit bei­den Hän­den von mir weg halte. „Wollt auch ihr wegge­hen?“, fragte Jesus seine Jünger, nach­dem ihn viele ver­lassen hat­ten, die es unerträglich fan­den, als er sagte: „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt“ (Joh 6,48 – 71). Nein, ich will nicht wegge­hen. Ger­ade deswe­gen bin ich gekom­men, dass die Worte des Glaubens Fleisch annehmen.

– Gabriele Kuby

Stimmen aus der Wüste

Bei jedem Schritt durch den Wüsten­sand, ist mir Jesus näher gekommen. So wurde meine Wüsten­zeit eine spir­ituelle Luxusreise!

Hans-Gerd
Teilnehmer 2015

So haben diese Exerz­i­tien mich in der Tiefe meiner Seele zutiefst getrof­fen und ich zehre sicher noch sehr, sehr lange für den Weg durch die Wüsten meines Lebens. Ich danke Gott für alls das, was Er mir in diesen Tagen unver­hofft geschenkt hat.

Michael
Teilnehmer 2015